Allerdings haben wir bei der www.spanisch-lehrbuch.de nochmal ein gesondertes Kapitel mit 300 Seiten über dieses Thema angehängt. Wir glauben aber, dass eine Diskussion des deutschen Zeitensystems den Zugang erleichtert, insbesondere da jeder ohnehin die Struktur einer Fremdsprache mit der seiner Muttersprache vergleicht. Wem das zu langatmig ist, der möge diesen Punkt überspringen.
Wir haben bereits im italian survival guide darauf hingewiesen, dass die Beschreibungen des deutschen Imperfektes, die Sie üblicherweise in Grammatiken, Schulbüchern und, besonders tragisch, auch auf Websites finden und von Lehrern vermittelt werden, falsch sind. Das heißt konkret, dass fast ausnahmlos alle Grammatiken einzustampfen sind und Lehrer flächendeckend nachzuschulen sind, was wir hiermit tun. Dass die sich dort befindlichen Beschreibungen falsch sind, wäre im übrigen zu verschmerzen, viel bedauerlicher ist aber, dass uns die dort gegebenen Beschreibungen den Zugang zum Verständnis anderer Sprachen verbauen. Aus übergeordneten moralischen / ethischen Erwägungen heraus müssen wir Definitionen dieser Art ablehnen, sie dienen nicht der Völkerverständigung.
"Das Präteritum wird immer dann gewählt, wenn ein Geschehen (eine Handlung) im Sprechzeitpunkt vergangen und abgeschlossen ist und in diesem Sinne der Vergangenheit angehört."
Duden, Die Grammatik, Mannheim, 1995, Seite 149
Dieses Werk hat noch einen Untertitel, "Unentbehrlich für richtiges Deutsch". Dem können wir nicht zustimmen, denn die Grammatik des Duden ist für richtiges Deutsch nicht nur nicht unentbehrlich, sondern ganz im Gegenteil, der Duden verdammt uns geradezu zur Sprachlosigkeit. Ist nämlich ein Vorgang zu schildern, der in der Vergangenheit eingesetzt hat und unter Umständen in der Gegenwart oder darüber hinaus andauert, dann wählen wir das Imperfekt. Ob der Vorgang abgeschlossen ist oder nicht, ist weitgehend egal. Kritisch anzumerken ist noch, dass Deutschland nicht der Mittelpunkt der Welt ist. Wäre die Duden Redaktion irgendeiner Fremdsprache mächtig bzw. hätte sie mal über irgendeine Fremdsprache nachgedacht, wäre sie auch in der Lage gewesen, den deutschen Imperfekt korrekt zu beschreiben. Schauen wir mal, ob wir bei diesem Satz eine abgeschlossene Handlung haben, die im Sprechzeitpunkt vergangen ist.
A: Hast du mal wieder was von Andrea gehört ?
B: Nein, letztes Jahr arbeitete sie bei Daimler Benz, was sie jetzt macht, weiß ich nicht.
Der Duden greift hier in unzulässiger Art und Weise in mehrere verfassungsmäßig garantierte Grundrechte ein. Nach dem Duden arbeitet Andrea jetzt nicht mehr bei Daimler Benz, die Handlung ist ja abgeschlossen, wohingegen B Andrea ja das Recht zugesteht, dort immer noch zu arbeiten. B überlässt es Andrea, ihren Job zu kündigen, der Duden nicht. Das ist ein unzulässiger Eingriff in das Recht auf freie Berufswahl.
Weiter fragen wir uns, was ein Italiener so fühlt, wenn wir die Zeiten nicht so verwenden, wie es üblich ist unter der Sonne, die schon den Apollo mit dem hellen, mediterranen Licht überstrahlte. Das können wir nachfühlen, wenn wir uns diese Sätze anschauen.
Ich las gerade ein Buch, als er zur Tür hereinschneite.
Ich habe es gerade eben gelesen.
nicht: Ich habe gerade ein Buch gelesen, als er zur Tür hereinschneite.
nicht: Ich las es gerade.
Das Adverb gerade hat zwei Bedeutungen. Zum einen beschreibt es den andauernden Charakter eines Ereignisses, zum andern stellt es einen engen Bezug zwischen einem Ereignis der Vergangenheit und der Gegenwart her. Auch das deutsche Imperfekt unterstreicht, zumindest in kritischen oder didaktisch geschickt gewählten Beispielen, das Andauernde einer Handlung. Folglich verwenden wir mit dem Adverb gerade, wenn dieses auf den andauernden Charakter einer Handlung / eines Ereignisses abstellt, eine Zeit, die diese Bedeutung unterstützt und nicht eine Zeit, die genau diese Bedeutung negiert. Umgekehrt, umgekehrt. Das deutsche Perfekt stellt, zumindest in kritischen Situationen oder in didaktisch geschickt gewählten Beispielen, einen Bezug zur Gegenwart her (Ich habe meinen Geldbeutel verloren. => Der Geldbeutel ist weg. / Ich hatte meinen Geldbeutel verloren. => Der Geldbeutel ist wieder da.) Verwenden wir also "gerade" in einem Kontext, wo "gerade" den Bezug zur Gegenwart herstellen soll, dann verwenden wir eine Zeit, die diese Bedeutung unterstützt und sie nicht negiert.
Und da wir schon mal dabei sind noch was. Sie mögen bei der Beschreibung des italienischen Zeitensystems finden, dass die Unterscheidungen, die die romanischen Sprachen treffen nicht besonders sinnreich sind, weil der Kontext, wie ja üblicherweise auch im Deutschen, einen Rückschluss darüber zulässt, was gemeint ist, der inhaltliche, semantische, Wert dieser Zeiten also schwach ist. Sie sollten aber mal bedenken, dass das Teutonische geradezu verzweifelt nach Äquivalenten sucht, es die Sprecher also geradezu dazu drängt, spontan, analoge Strukturen ins Deutsche einzuführen. Das sind dann die Konstruktionen, die manche Hobbysprachwissenschaftler, die mit einem Kugelschreiber durch die Gegend rennen und irgendwelche "Fehler" notieren à la Bastian Sick meinen anprangern zu müssen, obwohl solche Strukturen in der Tiefenstruktur des Gehirns fest verankert zu sein scheinen, in anderen Sprachen präsent sind und im Deutschen spontan äquivalente Strukturen entstehen, von denen eben Laien wie Bastian Sick meinen, dass sie falsch seien.
deutsch: Ich war gerade beim Essen, als er zur Tür hereinschneite.
Französisch: J' étais en train de manger, quand il entra.
Spanisch: Estaba comiendo, cuando él entró.
Italienisch: Stava mangiando, quando lui entrò.
Englisch: I was eating, when he suddenly came in.
Persisch: Man dashtam azar michoram, vaghtique u be dahele otagh amad.
Das Deutsche trennt nicht mehr messerscharf zwischen Imperfekt und Perfekt. Das Englische tut dies zwar auch nicht, hat aber dafür die continuous form, die den andauernden Charakter unterstreicht. Die anderen Sprachen trennen messerscharf zwischen andauernd / an den Rändern ausfransend einerseits und punktuell / abgeschlossen andererseits. Insofern hat das Deutsche ein Problem und greift spontan nach Strukturen, mit denen das Andauernde zum Ausdruck gebracht werden kann. Konstrukte wie "beim Lesen" sind nicht zu kritisieren. Die Sprache hat sich an die Funktionsweise des Gehirns anzupassen und nicht umgekehrt und das Gehirn scheint solche Strukturen wie "beim Essen" zu verlangen.